
24. Dezember 2017
Der Weihnachtspfadi
Trotz allem Spass und Gelächter war der 13-jährige Linus unglücklich. Er hatte Heiligabend bei all seinen Verwandten zwar genossen und alles bekommen, was er sich sehnlichst gewünscht hatte. Doch diese Weihnachten waren die ersten ohne seinen Bruder, Damian, der im März durch einen rücksichtlosen Autofahrer ums Leben kam.
Linus vermisste seinen Bruder und die enge Freundschaft, welche sie verband. Er bedankte sich bei seinen Verwandten für die Einladung, wünschte allen eine „Gute Nacht“ und erklärte seinen Eltern, dass er noch bei einem Freund vorbeischauen und von dort selbständig nach Hause gehen würde. Da es draussen bitterkalt war, zog er sich seine neue rot-schwarz-karierte Stoffjacke über. Sein absolutes Lieblingsgeschenk. Seine anderen Geschenke legte er sorgfältig auf seinen Schlitten und zottelte im Schneegestöber davon. Sein Ziel war ein Freund, den er in der Pfadi kennengelernt hatte. Er war ein wenig älter und bereits seit einem Jahr Leiter. Linus konnte aber immer sehr gut mit ihm sprechen und fühlte sich stets verstanden von ihm. Er war überaus gescheit, lebte aber in den Reben, dem Ort, wo mehrheitlich ärmere Leute lebten. Mit kuriosen Jobs half er, seine eigene Familie über Wasser zu halten.
Zu Linus Enttäuschung war sein Freund nicht zu Hause. Er ging weiter die Strasse runter, an kleinen Häusern vorbei, im Innern beleuchtet und mit Weihnachtsbäumen dekoriert. Durch ein Fenster erblickte er einen schäbigen Raum und rote Strümpfe, welche über dem Kamin hingen. Nebenan sass eine Frau … sie weinte. Die Strümpfe erinnerten ihn an seinen Bruder, wie sie zusammen ihre Strümpfe nebeneinander aufgehängt hatten. Am nächsten Morgen würden sie dann voll sein mit Geschenken.
Plötzlich kam Linus ein Gedanke: Er hatte heute seine gute Tat noch nicht getan. Noch ehe der Gedanke verschwand, klopfte er bereits an der Tür. „Ja?“, fragte die Frau mit trauriger Stimme. „Darf ich reinkommen?“, fragte Linus. „Klar, willkommen“, sagte sie und sah seinen Schlitten voll mit Geschenken. Sie dachte, er mache eine Sammlung und meinte nur: „aber ich habe leider weder Essen noch Geschenke für dich. Es reicht nicht einmal für meine eigenen Kinder.“
„Deshalb bin ich nicht hier“, antwortete Linus. „Bitte, nehmen Sie vom Schlitten was Ihnen für Ihre Kinder gefällt.“
„Gott behüte dich!“, antwortete die überwältigte Frau dankbar. Sie nahm einige Süssigkeiten, ein Spiel, ein Puzzle und ein Spielflugzeug. Als sie die Maglite mit dem Logo seiner Pfadiabteilung vom Schlitten nahm, brach Linus beinahe in Tränen aus. Schlussendlich waren die Strümpfe über dem Kamin gefüllt.
„Wie heisst du?“, fragte sie als er bereits am Gehen war.
„Sagen wir einfach, ich bin der Weihnachtspfadi.“, antwortete er.
Der Besuch berührte Linus zutiefst und er fühlte sich überaus glücklich und voller Freude. Er verstand, dass sein Kummer nicht der einzige in der Welt war. Bevor er die Reben verliess, verschenkte er den Rest seiner Geschenke. Die karierte Stoffjacke gab er an einen fröstelnden kleinen Jungen ab.
Linus hatte kalt und stapfte mit einem mulmigen Gefühl nach Hause. Wie würde er seinen Eltern erklären, dass er alle Geschenke weggegeben hatte? „Sohn, wo sind deine Geschenke?“, fragte der Vater, als Linus das Haus betrat.
Er antwortete: „Ich habe sie weggegeben.“
„Das Flugzeug von Tante Susanne? Die Jacke von Oma? Deine Taschenlampe? Wir dachten, du würdest die Geschenke mögen!“
„Ich war sehr glücklich mit allem.“, antwortete Linus leise.
„Aber Linus, was sollte denn diese Aktion?“, fragte seine Mutter. „Wie sollen wir das den Verwandten erklären, welche so viel Zeit und Liebe ins Geschenke-Einkaufen investiert haben?“
Sein Vater meinte nur forsch: „Du hast deine Wahl getroffen mein Sohn. In Zukunft wird es wohl keine Geschenke mehr geben.“
Mit seinem verlorenen Bruder und seiner enttäuschten Familie fühlte sich Linus plötzlich furchtbar alleine. Er erwartete keine Gegenleistung für eine gute Tat, er wusste, dass diese in sich bereits eine Belohnung für ihn war. Wäre es anders, würde sie ja an Bedeutung verlieren. Er wollte er seine Geschenke nicht zurück; er fragte sich, ob er jemals wieder richtig glücklich sein würde. Früher am Abend war er so glücklich, aber diese Freude war vergangen. Er dachte an seinen Bruder und schlief ein.
Als er am nächsten Morgen die Treppe herunterkam hörten seine Eltern Weihnachtslieder im Radio. Der Moderator meldete sich: „Frohe Weihnachten euch allen! Die schönste Weihnachtsgeschichte am heutigen Morgen kommt aus den Reben. Ein kranker Junge hat einen neuen Schlitten, ein anderer bekam eine karierte Stoffjacke und viele Familien berichten über einen Teenager der ihre Kinder mit Geschenken glücklich machte. Der Junge nannte sich schicht der Weihnachtspfadi. Niemand kennt ihn, aber die Kinder in den Reben vermuten, dass er ein persönlicher Bote vom Weihnachtsmann war.
Linus spürte, wie sich die Arme seines Vaters um seine Schultern legten und er sah, wie ihn seine Mutter mit Tränen in den Augen anlächelte. „Warum hast du uns nichts gesagt? Wir wussten von alledem nichts. Wir sind soo stolz auf dich, Linus.“
Im Radio hörte man Kinder singen: „. . .Praises sing to God the King, and peace to men on Earth.“
Hiermit findet der Adventskalender ein Ende.
Die Redi wünscht allen Lesern frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins 2018!

23. Dezember 2017
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